Haushaltsrede 2003

Haushaltsrede  2003
von Ingrid Raddatz
Fraktionsvorsitzende
Wie stolz waren wir über den ausgeglichenen HH 2002 !
Und nun erleben wir gerade einmal ein Jahr später eine so unsanfte Landung bei einem satten Minus von fast 6 Mill. €

Was ist passiert?
Die allgemeine wirtschaftliche Situation, schlechte Rahmenbedingungen für Investitionen, Planungsunsicherheit für Unternehmen durch sich ständig ändernde gesetzliche Bestimmungen, das Ankündigungsdurcheinander über mögliche weitere Maßnahmen – wer geht da schon gerade in kleineren Betrieben sehenden Auges unkalkulierbare Risiken in Form von Investitionen in neue Arbeitsplätze ein ? 
Aber genau die bräuchten wir dringender denn je. Die neusten Arbeitslosenzahlen , gestern veröffentlicht, werden in ihren Ausmaßen aber immer verheerender. Doch gerade hier haben wir den Dreh- und Angelpunkt unserer derzeitigen Probleme. Schließlich ist alles, was wir im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme aufgebaut haben, an den Faktor Arbeit geknüpft.
Unsere Sozialsysteme müssen damit von immer weniger Erwerbstätigen für immer mehr Leistungsempfängern bedient werden. Und den Arbeitgebern wird durch die steigenden Lohnnebenkosten das Engagement für Neueinstellungen geradezu ausgetrieben.
Und nun kommt die Reaktion in solch plakativen Forderungen wie:

Mehr Geld muss ins System !
Wir haben kein Ausgaben, sondern ein Einnahmeproblem !
Und jetzt überschlagen sich die Vorschläge, wie und woher man das Geld einzutreiben gedenkt. Dass damit das Klagelied über den gefräßigen Staat immer lauter wird, ist keineswegs verwunderlich. Schlimm wird die Situation aber vor allem deswegen, weil man gutes Geld schlechtem nachwirft, weil sich an der Situation nichts ändert.
Was für ein Glück, dass die politisch Handelnden keine Historiker sind ! Was sich nämlich Fürsten, Zwingherren und Potentaten zu allen Zeiten zur Füllung des Staatssäckels einfallen ließen – dagegen nimmt sich unser Staat noch geradezu phantasielos aus ! 
Doch im Ernst, die Auswege aus den Finanzierungsnöten
- hier ist die intensive Lektüre des Sozialetats im Kreishaushalt geboten – müsste in Wirklichkeit heißen: das System muss so verändert werden, dass es auch unter sich verändernden Bedingungen auf solidem Fundament steht. 
Das wird ein schmerzhafter Prozess auch deswegen, weil man nicht bereits den Anfängen gewehrt hat. Dagegen waren die Sparbemühungen im Rahmen der HH-Planung für 2002 geradezu marginal. Und mit welchem Echo der Betroffenen waren die bereits begleitet worden?
Dennoch geht kein Weg an diesem Konsolidierungsprozess vorbei. Und die politische Handelnden aller Couleur und aller politischen Ebenen, bekommen die Quittung für ein Verhalten, das seit Jahrzehnten gepflegt wird: Dem Wahlvolk wurden immer neue Versprechungen gemacht, die Ansprüche von Lobbyisten – wenn sie nur laut genug schrieen – befriedigt, damit bei anderen Gruppen Begehrlichkeiten erst geweckt. Und mancher Wahlkämpfer sonnte sich im besonderen Glückgefühl, wenn er noch ein Nischenproblem gefunden hatte und es befriedigen konnte – wohlgemerkt mit dem Geld anderer und zu lasten von Problemfeldern, zu deren Lösung der Einsatz von mehr Mitteln nötig gewesen wäre. 
Andererseits sollte man auch den Bürgern einmal den Spiegel vorhalten : solange sie jene wählen, die sie in ihrer Selbsttäuschung über die prekäre Lage noch stützen und die abstrafen, die den Ist-Zustand nicht beschönigen und klar die notwendigen Einschnitte nennen, sollten sie mit ihrer Verdrossenheit schon mal bei sich selbst beginnen.
Unser HH signalisiert an vielen Stellen, wohin uns die ständige Befriedi-gung von Ansprüchen gebracht haben. Dank wohlmeinender Bundes- und Landesgesetze, die nicht nur den finanziellen Umfang, sondern auch noch die Standards festschreiben, wird unser Sozialhaushalt von Jahr zu Jahr weiter in die Höhe getrieben, weil wir keine Chance haben, günstigere Lösungen zu verwirklichen. Es kann doch nicht stimmen: Je umfänglicher der Sozialhaushalt, desto sozialer. Je weniger Menschen abhängig wären von sozialen Transferleistungen, das wäre Ausdruck einer gelingenden Sozialpolitik ! Und die kommunale Ebene hat die Masse dessen zu bezahlen, was andere bestellt haben. Wenn die Zuständigkeit von Maßnahmenträgerschaft und Finanzierungsverantwortung in einer Hand wären – egal auf welcher politischen Ebene – hätten wir schon eines der bestehenden Grundübel beseitigt. Was , Herr Landrat, braucht ihr mahnender Brief an den Bundeskanzler die Bundesebene z. B. im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zu jucken ! Bundesweit sind hier die Ausga-ben um rund 12% gestiegen. Gezahlt wird das gesamte Angebotsspektrum zu 80% von der kommunalen Ebene, zu 19 % von der Länderebene und zu 1% vom Bund.
Vielleicht sind wir aber dank der desolaten Situation an einem Punkt angekommen, wo Politik endlich nicht mehr nach dem Motto : „Was hättet ihr gerne?“ vorgehen kann und die Bürger erkennen, dass durch das Beharren auf Ansprüchen die staatlichen Systeme in den Ruin getrieben werden.

Die Erkenntnis muss Raum greifen, dass nur durch Einschnitte und die Finanzierung nur noch eines gediegenen sozialen Fundaments, ein solides und zukunftsfestes soziales Sicherungssystem zu haben ist. Wenn Sozialexperten ökonomisches Denken anwenden und Ökonomen die sozialen Dimensionen in ihr Handeln einbeziehen, ist nicht das Ende des Sozialstaates eingeläutet, sondern dessen Zukunft gesichert – allerdings ohne die Auswüchse, die wir heute beklagen.
Wo die Misere offensichtlich wird bis in die letzte Gemeinde, bei den Pensionären, den Arbeitslosen der hochbejubelten IT-Branche, den arbeitsplatzsuchenden Hochschulabgängern, kann vielleicht die Sklerose in unser aller Köpfe aufgebrochen werden. Ein Sieg also für längst bekannte FDP-Positionen ? Wird aus dem Schimpfwort „ soziale Kälte“ , wenn die gleichen Forderungen nun aus anderen politischen Ecken kommen plötzlich gar noch die lobende Anerkennung „ soziale Verantwortung“?
Die FDP-Fraktion kann deshalb aus innerster und lang bekannter Überzeu-gung dem Resolutionstext zustimmen. Unsere Rückendeckung für die im nächsten Kreistag geplante Anhörung steht für uns deshalb auch außer Frage.
In diesem Zusammenhang halte ich eine weitere Anhörung für äußerst dringend, wenn wir Planungen für den Kreis mit Weitsicht, tragbaren Konzepten und Strategien angehen wollen: nämlich die zu den Dimensionen der Veränderungen nicht nur der Bevölkerungszahlen, sondern auch der damit einhergehenden Veränderung in der Bevölkerungsstruktur. Es gibt zwar einen Abschlussbericht der Enquete-Kommission „ Bevölkerungsentwicklung“ auf Bundesebene, aber dort, wo die Veränderungen zuerst greifen werden, auf der kommunalen Ebene gibt es noch kein Handlungsszenario. Vielleicht gelingt es ja auf diesem Gebiet, durch rechtzeitiges Handeln uns auf veränderte Gegebenheiten einzu-stellen.
Heute stehen wir erst einmal vor den wenig erfreulichen Zahlen des HH 2003. Es wäre nun ein einfaches, die Zeche, die wir uns nicht eingebrockt haben, an andere weiterzureichen, weil wir ja Gott sei Dank nicht das Ende der Fahnenstange sind. Diese Option hätten wir gehabt und wir hätten damit systemgerecht unseren Schuldenberg über die Umlage an die Gemeinden weiterreichen können. Wir hätten auch in kommunaler Solidarität die Schulden zwischen Kreis und Gemeinden so aufteilen können, dass die starken Schultern mehr, die schwachen weniger davon zu tragen gehabt hätten und wären damit in der Systematik unserer Umlagenberechnung geblieben. Hier lagen noch im November die Präferenzen der FDP-Fraktion. Und dann kam alles noch schlimmer : das Defizit im Kreishaushalt kletterte weiter, erwartete Zuweisungen für den kommunalen Bereich wurden nach unten korrigiert und dann folgte noch die eklatante Steigerung der Personalkosten durch den Tarifabschluss.
Wir haben nicht den Kopf in den Sand gesteckt, Herr Landrat, sondern einfach entschieden, jetzt ist das Ende der Zumutungen für die Gemeinden gekommen.
Wenn auch die Hoffnung nur vage ist, sollte man dennoch optimistisch genug sein, dass uns dieses Jahr vielleicht nicht nur Maulheldentum bei der Ankündigung von Reformen, nicht nur Kleinmütigkeit und Verzagtheit bei den Reformwilligen, sondern ein kraftvolles Handeln vieler beschert. 
Koalitionen der Vernunft sind angesagt . es scheint sich diesbezüglich auf allen politischen Ebenen etwas zu regen. Selbst hier im Landkreis sieht man die Zeichen : wir verabschieden heute einen HH mit allen Stimmen.
Lassen sie mich abschließend eine für unsere heutige Situation treffende Episode aus der Geschichte zu zitieren: 200 Jahre bestand der Konvent von Cluny in Burgund – angesehen im ganzen Abendland, eine Stätte von Kultur, Wissenschaft und kirchlichen Reformwillens – als Abt Venerabilis nun ein völlig verarmtes Kloster übernahm, ausgestattet mit 500 lebenden Mönchen und 48000 toten Mönchen. Die bei der Klostergründung festgelegte Fürsorgeverpflichtung für das Seelenheil der Verstorbenen hieß inzwischen die Versorgung von 48000 Armen an den Todestagen der Mönche im Laufe eines Jahres. Bei der anfangs geringen Zahl von Toten und in den fetten Jahren war das kein Problem, jetzt aber ging es an die Substanz und die Lebenden konnten nur noch kärglich ernährt werden. Mutiger Schnitt des Abtes – leider kam er für das Kloster bereits zu spät –
pro Tag durften nur noch 50 Arme verköstigt werden. Die Ordensgründer der Folgezeit zogen daraus eine Lehre: Sie griffen zur Maßnahme zwei: das Totengedenken für alle wurde auf einen Tag im Jahr beschränkt. Dagegen erhoben Mönche Klage, zum einen, weil dies ein Traditionsbruch sei und sie im übrigen Wert darauf legten, ein individuelles Totengedenken mit Speisung eines Armen wollten. Standhafte Äbte haben dem Rechnung getragen mit Maßnahme drei: Wer auf ein individuelles Totengedenken bestehen wollte, musste zu Lebzeiten über eine Stiftung die Kosten selbst erwirtschaften.
Durch Einschnitte in liebgewordene Systeme und Selbstbeteiligung die Gesamtgemeinschaft auf solide Füße stellen – ist also keine Erkenntnis unserer Tage.

Die Verwaltung hatte eine Menge Arbeit mit diesem HH und den ständigen Anpassungen an neue Situationen. Unser Dank geht an alle, die daran mitgewirkt haben.